Von Verena Haisch und Lennart Elsaß
Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass die Praxis der Zivilgerichte, im Bereich des Presserechts einstweilige Verfügungen regelmäßig ohne Anhörung der Gegenseite zu erlassen, gegen das verfassungsrechtlich geschützte Recht auf prozessuale Waffengleichheit verstößt (Beschlüsse vom 30. September 2018, Az.: 1 BvR 1783/17, 1 BvR 2421/17).
The Federal Constitutional Court has ruled that the practice of the civil courts of issuing interim injunctions in the area of the press law regularly without hearing the opposing party violates the constitutionally protected right to equality of arms in legal proceedings.
Die beiden Verfassungsbeschwerden, über die das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) jetzt entschieden hat, waren jeweils von einem Recherchenetzwerk und einem Presseverlag erhoben worden.
Die zivilgerichtlichen Verfahren
Im ersten Fall (Az.: 1 BvR 1783/17) war ein Recherchenetzwerk, das auf seiner Website über eine Aufsichtsratssitzung berichtet hatte, in der es unter anderem um Korruptionsvorwürfe gegen das Unternehmen ging, vom Landgericht Köln zur Unterlassung verpflichtet worden. Und zwar ohne vorprozessuale Abmahnung durch den Anspruchsteller oder Anhörung durch das Gericht. Das Recherchenetzwerk legte Widerspruch ein und erhob Verfassungsbeschwerde. Ein gleichzeitig gestellter Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung beim BVerfG wurde jedoch umgehend abgelehnt, da sich die Verletzung des rechtlichen Gehörs sich in der mündlichen Verhandlung noch heilen ließe. Bezüglich der ebenfalls gerügten Verletzung des Rechts auf prozessuale Waffengleichheit fehle es an einer Darlegung der Eilbedürftigkeit. Nach Durchführung der mündlichen Verhandlung bestätigte das Landgericht Köln die einstweilige Verfügung.
Im zweiten Fall (Az.: 1 BvR 2421/17) wurde ein Presseverlag nach mehreren Anläufen und erst vom Hanseatischen Oberlandesgericht im Wege der einstweiligen Verfügung zum Abdruck einer Gegendarstellung verpflichtet. In einem vom Verlag herausgegebenem Magazin war über Steuersparmodelle eines Fernsehmoderators berichtet worden. Der Moderator ließ den Verlag zunächst außergerichtlich zum Abdruck einer Gegendarstellung auffordern. Als dies abgelehnt wurde, stellte er beim Landgericht Hamburg seinen ersten Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung. Das Gericht aber wies den Antrag zurück, ohne den Verlag über Antrag und Entscheidung zu informieren. Im Rahmen der gegen die Zurückweisung erhobenen sofortigen Beschwerde telefonierte ein Richter des Hanseatischen Oberlandesgerichts mit dem Anwalt des Fernsehmoderators, und wies diesen auf Bedenken gegen die Erfolgsaussichten hin. Auch davon erfuhr der Verlag nichts; seine Beschwerde nahm der Fernsehmoderator zurück.
Doch der ließ nicht locker und forderte den Verlag erneut zur Gegendarstellung in modifizierter Form auf. Als auch dies abgelehnt wurde, begann das Spiel von vorn: Erfolgloser (zweiter) Antrag beim Landgericht Hamburg, sofortige Beschwerde zum Oberlandesgericht und schließlich Rücknahme von Antrag und Beschwerde. Die vorprozessuale begründete Ablehnung der Gegendarstellung durch den Verlag war dem Gericht nicht übersandt worden. Der Verlag erfuhr auch dieses Mal nichts vom Verfahren.
Bereits parallel zum zweiten Verfahren hatte der Fernsehmoderator dem Verlag außerprozessual ein drittes Gegendarstellungsverlangen zugesandt, das ebenfalls zurückgewiesen wurde. Ein daraufhin beim Landgericht gestellter (dritter) Antrag scheiterte wieder. Die hiergegen eingelegte Beschwerde hatte Erfolg: Das Hanseatische Oberlandesgericht erließ schließlich die begehrte einstweilige Verfügung. Als der Beschluss dem Verlag vier Monate nach der Veröffentlichung zugestellt wurde, erfuhr dieser erstmals von den Gerichtsverfahren und der regen Korrespondenz des Antragstellers mit den Gerichten und den einseitig erteilten Hinweisen. Gegen den Beschluss erhob der Verlag sodann Verfassungsbeschwerde. Ein daneben gestellter Antrag auf einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung wurde vom BVerfG wiederum mangels Eilbedürfnis in Bezug auf das Recht auf prozessuale Waffengleichheit abgelehnt. Bezüglich der Verletzung des rechtlichen Gehörs sei aufgrund einer zwischenzeitlich stattgefundenen mündlichen Verhandlung Heilung eingetreten.
Die Entscheidungen des BVerfG
Die Entscheidungen des BVerfG sind im Wortlaut weitgehend identisch und ungewöhnlich deutlich in der Kritik am Vorgehen der Instanzgerichte.
Der Grundsatz der prozessualen Waffengleichheit sei Ausprägung der Rechtsstaatlichkeit und des allgemeinen Gleichheitssatzes im Zivilprozess und sichere die Gleichwertigkeit der prozessualen Stellung der Parteien vor dem Richter. Dieser habe auch mit Blick auf den in Art. 103 Abs. 1 GG geregelten Anspruch auf rechtliches Gehör den Parteien gleichermaßen die Möglichkeit einzuräumen, alles für die gerichtliche Entscheidung Erhebliche vorzutragen und prozessuale Verteidigungsmittel geltend zu machen. Die Möglichkeit zur Einflussnahme auf die gerichtliche Entscheidung im Vorfeld sei nur ausnahmsweise entbehrlich, wenn ansonsten der Zweck der Maßnahme vereitelt würde. Die angegriffenen gerichtlichen Entscheidungen würden diesen Maßstäben nicht gerecht.
Die Gerichte müssten auch im Presse- und Äußerungsrecht der Gegenseite das Recht auf Gehör gewähren. Von der Erforderlichkeit einer Überraschung oder Überrumpelung könne sowohl bei Unterlassungs- als auch bei Gegendarstellungsansprüchen jedenfalls dann nicht ausgegangen werden, wenn es um eine bereits veröffentlichte Äußerung gehe.
Hiervon zu trennen sei die Frage, inwieweit auf Grundlage des § 937 Abs. 2 ZPO wegen Dringlichkeit auf eine mündliche Verhandlung verzichtet werden könne. Insofern sei zwar anzuerkennen, dass wegen der Gefahr einer schnellen Verbreitung der Informationen vor allem im Internet Eile regelmäßig geboten sei. Das Gericht habe jedoch, wenn sich im Laufe des Verfahrens herausstellt, dass die begehrte Entscheidung doch nicht unverzüglich ergehen kann, gegebenenfalls doch noch eine mündliche Verhandlung anzuberaumen.
Auch wenn auf eine mündliche Verhandlung verzichtet werde, rechtfertige dies jedoch nicht, den Antragsgegner bis zur Entscheidung aus dem Verfahren herauszuhalten. Eine stattgebende Entscheidung komme vielmehr nur dann in Betracht, wenn die Gegenseite die Möglichkeit zur Erwiderung hatte. Dafür könne auch auf die Möglichkeit zur Erwiderung auf eine vorprozessuale Abmahnung ausreichen – allerdings nur unter strengen Voraussetzungen. Erforderlich sei dann, dass der Verfügungsantrag unverzüglich nach Ablauf einer angemessenen Frist bei Gericht eingereicht werde, die abgemahnte Äußerung sowie die Begründung mit dem bei Gericht geltend gemachten Unterlassungsbegehren identisch seien und ein etwaiges Antwortschreiben des Antragsgegners beim Gericht zusammen mit der Antragsschrift eingereicht werde.
Vor allem mit Blick auf die Verfahren in Hamburg wird das Gericht noch einmal deutlich: Wenn die Zivilgerichte dem Antragsteller einen Hinweis nach § 139 ZPO erteilten, müssten sie diesen zum einen vollständig dokumentieren, zum anderen aber auch dem Antragsgegner mitteilen und ihm Gehör gewähren. Ein einseitiges Geheimverfahren über einen mehrwöchigen Zeitraum, in dem sich Gericht und Antragsteller über Rechtsfragen austauschen, ohne den Antragsgegner in irgendeiner Form einzubeziehen, sei mit den Verfahrensgrundsätzen des Grundgesetzes unvereinbar.
Auswirkungen in der Praxis
Die geschilderten Verfahren sind keine Einzelfälle. Wie die in den aktuellen Entscheidungen zitierten Stellungnahmen des Justizministeriums in Nordrhein-Westfalen und der Justizbehörde in Hamburg bestätigen, ist es in den Landgerichtsbezirken Köln und Hamburg absolut üblich (gewesen?), im Presse- und Äußerungsrecht ohne mündliche Verhandlung und ohne Anhörung des Gegners zu entscheiden. In der Regel wird zwar eine vorprozessuale Abmahnung verlangt. Dass auf die ausreichende Gewährung des „kleinen rechtlichen Gehörs“ kein Verlass ist, zeigen jedoch die vorliegenden Entscheidungen eindrücklich, insbesondere die aus Hamburg, aus der hervorgeht, dass die Anwälte die Zurückweisungsschreiben des Verlages dem Gericht einfach nicht überreicht haben.
Das BVerfG erkennt zwar an, dass bei der Betroffenheit des Persönlichkeitsrechts besondere Gefahren durch die Möglichkeit der schnellen Verbreitung von Informationen vor allem im Internet bestehen. Es ruft jedoch die Zivilgerichte deutlich zur Ordnung und fordert eine kritische Prüfung, ob die Beschneidung der Verteidigungsrechte durch einen Verzicht auf die vom Gesetz regelhaft vorgeschriebene mündliche Verhandlung wirklich notwendig ist.
Das BVerfG stärkt die Rechte des Antragsgegners auch durch den Grundsatz, dass gegen den Antragsgegner auch ohne mündliche Verhandlung kein Beschluss ergehen kann, ohne dass er hierüber informiert wurde und die Möglichkeit zur Stellungnahme hatte. Abgemahnten ist zu raten, ihren Rechtsstandpunkt in dem Zurückweisungsschreiben darzulegen oder sogar die Einreichung einer Schutzschrift zu erwägen, um wirklich sicherzugehen, dass das Gericht hiervon Kenntnis erlangt. Ändern sich Gegenstand oder Begründung des Antrags oder erteilt das Gericht rechtliche Hinweise, muss er davon informiert werden und kann dann seine Rechtsverteidigung entsprechend anpassen. Jedenfalls dann, wenn sich die Praxis der Gerichte wirklich ändern sollte.
Ändern muss sich auch die Praxis, dass einseitig rechtliche Hinweise erteilt werden, von denen die andere Partei erst viel zu spät erfährt, etwa wenn sie nach Erlass eines Verbots Akteneinsicht beantragt. Und selbst wenn: Viele Richter notier(t)en den Inhalt solcher Telefonate nur mit nichtssagenden Floskeln und/oder so unleserlich handschriftlich zur Akte, dass nicht mehr nachvollzogen werden kann, welchen Inhalt solche einseitigen Gespräche hatten. Das geht künftig nicht mehr, das BVerfG stellt klar: Hinweise müssen, insbesondere sofern sie mündlich oder fernmündlich erteilt werden, vollständig dokumentiert werden, so dass sich nachvollziehbar aus den Akten ergibt, wer wann wem gegenüber welchen Hinweis gegeben hat.
Wie die Gerichte ihre tagtägliche Praxis ändern werden ist ebenso spannend wie die Frage wie mit einstweiligen Verfügungen umzugehen ist, die unter Verletzung der dargestellten Grundsätze erlassen wurden. Denkbar wäre eine Aufhebung der einstweiligen Verfügungen wegen Verletzung der genannten Verfahrensgründe. Ein weiterer Antrag auf Erlass eines (neuen) Verbots kann im Anschluss daran regelmäßig schon daran scheitern, dass es wegen Zeitablaufs oder wegen des dringlichkeitsschädlichen Betreibens des Verfahrens an der Dringlichkeit, also dem Verfügungsgrund, fehlt.