Von Prof. Dr. Stefan Engels und Lennart Elsaß
Die Frage, unter welchen Voraussetzungen Informationen im Internet über lange zurückliegende Ereignisse „vergessen“ werden müssen, beschäftigt die deutsche und europäische Rechtsprechung schon seit Jahren immer wieder. Nachdem im ersten Teil dieses Beitrags zwei grundlegende Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vorgestellt wurden, soll es nun darum gehen, welche Auswirkungen diese Rechtsprechung auf den Betrieb von Online-Archiven hat.
The question under which conditions there is a right to remove information about about events that occurred in the distant past from the internet has been a recurring issue in German and European case law. After two fundamental decisions of the German Federal Constitutional Court were presented in the first part of this article, the second part focuses on the implications of these decisions for the operation of online archives.
1. Erfordernis einer qualifizierten Beanstandung
Zunächst ist zu begrüßen, dass das BVerfG ausdrücklich klarstellt, dass ein Tätigwerden des Archiv-Betreibers erst nach einer qualifizierten Beanstandung erforderlich ist. Der Betroffene muss dabei seine Schutzbedürftigkeit näher darlegen und seine Beschwer nachvollziehbar machen. Hierdurch wird erst der Kontrollrahmen für die Prüfung bestimmt. Praktische Konsequenz ist, dass die für diese Beanstandung entstandenen Kosten, etwa wegen der Beauftragung eines Anwalts, nicht dem Betreiber des Archivs auferlegt werden können. Bis zum Zeitpunkt der Beanstandung war das Verhalten schließlich noch nicht rechtswidrig und es fehlt damit an den Voraussetzungen für einen Ersatzanspruch.
2. Die Bedeutung des Zeitablaufs in der neuen Abwägung
Ein Anspruch gegen das Vorhalten eines Berichts, der lange zurückliegende Ereignisse zum Gegenstand hat, besteht nur dann, wenn eine Abwägung auf Grundlage der aktuellen Umstände ein Überwiegen der Rechte des Betroffenen ergibt. Festzuhalten ist dabei, dass es keinen Automatismus dergestalt gibt, dass Informationen nach Ablauf einer bestimmten Zeit gelöscht werden müssen. Der Faktor Zeit ist lediglich ein Aspekt, der in der neuen Abwägung zu berücksichtigen ist. Dies hat das BVerfG auch in zwei jüngeren Entscheidungen jeweils unter Bezugnahme auf die „Recht auf Vergessen“-Entscheidungen noch einmal bekräftigt.
Zum einen lehnte es einen Anspruch darauf ab, dass aus einem 35 Jahre alten, online verfügbaren Magazin-Beitrag die Information gelöscht wird, dass es sich beim Beschwerdeführer um den Sohn eines ehemaligen Münchener Bürgermeisters handelt. Trotz des langen Zeitablaufs habe er die Berichterstattung weiterhin hinzunehmen, da das allgemeine Persönlichkeitsrecht nicht das Recht gewährleiste öffentlich so wahrgenommen zu werden, wie es den eigenen Wünschen entspreche und keine negativen Folgen der Offenbarung des Kindschaftsverhältnisses ersichtlich seien (BVerfG, Beschluss vom 25.02.2020, Az.: 1 BvR 1282/17).
Des Weiteren hob es kürzlich aufgrund einer Verletzung der Grundrechte auf Presse- und Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 GG eine Entscheidung auf, in der einer Zeitschrift die Berichterstattung über einen lange zurückliegenden Täuschungsversuch beim juristischen Staatsexamen eines Managers und früheren Politikers untersagt wurde. Die Berechtigung der Presse, über wahre Tatsachen zu berichten, erlösche „nicht in schematischer Weise durch bloßen Zeitablauf“, sondern ein „Recht auf Vergessen“ bestünde immer nur als Ergebnis eines Abwägungsprozesses, in dem die jeweilige Berichterstattung, das Interesse an ihr und die damit einhergehende Beeinträchtigung für den Betroffenen zu berücksichtigen seien (BVerfG, Beschluss vom 23.06.2020, Az.: 1 BvR 1240/14).
Das Verstreichen von Zeit mag zwar in der Regel zur Folge haben, dass das Interesse an der Berichterstattung sinkt. Dabei ist jedoch immer der Anlass der ursprünglichen Berichterstattung in den Blick zu nehmen und zu beachten, dass dieser sich auch wieder aktualisieren kann. Eine große Rolle kann dabei das Verhalten des Betroffenen spielen. Hat er selbst die Öffentlichkeit gesucht und das Interesse an den ursprünglichen Berichten reaktualisiert, geht das BVerfG von einem geringeren Gewicht seines Interesses in der Abwägung aus. Es spricht insofern in der Entscheidung „Recht auf Vergessen I“ (Beschluss vom 06.11.2019, Az.: 1 BvR 16/13) davon, dass zu der Chance auf ein Vergessen auch ein Verhalten gehöre, das von einem „Vergessenwerdenwollen“ getragen sei.
3. Beschränkung der Auffindbarkeit als Inhalt des Anspruchs
Während der BGH bisher einem binären Verständnis folgend entweder zur Unterlassung des Vorhaltens des Beitrags im Archiv verpflichtete oder aber das Bestehen eines Anspruchs insgesamt ablehnte, verfolgt das BVerfG wie im ersten Teil des Beitrags dargelegt, einen differenzierteren Ansatz. Der Anspruch auch darauf gerichtet sein, lediglich die Auffindbarkeit des Artikels nach Eingabe des Namens des Betroffenen in eine Suchmaschine zu verhindern.
Wie dies technisch zu realisieren ist, wird sich erst noch zeigen müssen. Auch das OLG Hamburg hatte bereits vor einigen Jahren einem Betroffenen einen entsprechenden Anspruch gegen den Betreiber eines Internetarchivs zugesprochen (Urteil vom 07.07.2015, Az.: 7 U 29/12). Die Umsetzbarkeit dieser Pflicht wurde jedoch bereits damals in Frage gestellt. Zwar besteht die Möglichkeit, mittels Einsatzes einer sogenannten robots.txt-Datei den Crawlern von Suchmaschinen die Anweisung zu geben, bestimmte Seiten nicht zu indexieren. Da hierdurch aktuell jedoch nur der gesamte Artikel ausgelistet werden kann – also auch bei Eingabe anderer Schlagworte als dem Namen des Betroffenen nicht mehr aufzufinden ist – lässt sich alleine hierdurch zumindest nicht erreichen, dass der Artikel weiter für Personen über Suchmaschinen recherchierbar ist, die lediglich ein zeithistorisches oder journalistisches Interesse an der Tat als solcher haben. Das BVerfG diskutiert in der Entscheidung „Recht auf Vergessen I“ zwar eine Kombinationslösung, in deren Rahmen eine Indexierung einer anonymisierten Version des Textes erfolgt, bei einem Klick auf den von der Suchmaschine angezeigten Link jedoch auf einen vollständigen Artikel samt identifizierender Informationen weitergeleitet wird. So würde die Quelle weiter in unveränderter Form aufgefunden werden können, aber eben nicht mehr nach der alleinigen Eingabe des Namens des Betroffenen. Wie genau eine solche Lösung technisch umsetzbar ist und welche Maßnahmen sich als praktikabel erweisen, wird sich jedoch erst noch zeigen müssen.
Das BVerfG betont dabei, dass die Schutzmaßnahmen grundsätzlich auch technische Anstrengungen und Kosten für die Betreiber der Archive mit sich bringen dürften. Diese Verantwortung sei Folge der Einstellung der Inhalte auf eine allgemein zugängliche Plattform im Internet. Dass auf diese Artikel über das Netz und insbesondere auch mittels Suchmaschinen Zugriff genommen wird, werde schließlich „mit der Bereitstellung im Netz gewollt und verantwortet“. Die den Medienunternehmen abverlangten Maßnahmen müssen jedoch in jedem Fall zumutbar sein und dürfen sie nicht von der identifizierenden Berichterstattung oder dem Betrieb von Archiven insgesamt abschrecken. Auch billigt das BVerfG ihnen gewisse Einflussmöglichkeiten hinsichtlich der konkreten Umsetzung zu, solange der Betroffene im Ergebnis ausreichend geschützt wird. Sofern das vorgegebene Ziel erreicht wird, besteht also durchaus ein gewisser Spielraum für kreative Lösungen.
4. Sonderfall Verdachtsberichterstattung
In einer neueren Entscheidung hat das BVerfG inzwischen auch noch einmal die in den „Recht auf Vergessen“-Entscheidungen aufgestellten Grundsätze für die Verdachtsberichterstattung konkretisiert (Beschluss vom 07.07.2020, Az.: 1 BvR 146/17). Die ursprüngliche Zulässigkeit einer Berichterstattung sei auch hier ein entscheidender Faktor, der in der Regel eine unveränderte öffentliche Bereitstellung auch nach langer Zeit noch rechtfertige. Schließlich würden in diesem Fall bereits besonders gesteigerte Anforderungen an die ursprüngliche Veröffentlichung gelten. Zumutbar seien einschränkende Maßnahmen gegenüber einer unveränderten Bereitstellung der Verdachtsberichterstattung in Onlinearchiven daher nur in Ausnahmefällen, in denen die Folgen für die Betroffenen besonders gravierend seien.
Von den Fachgerichten seien jedoch auch hier vermittelnde Lösungen zu erwägen. Ein klarstellender Nachtrag könne allerdings nur verlangt werden, wenn der Betroffene der Presse mitgeteilt habe, dass es zu einem Freispruch, einer Einstellung des Ermittlungsverfahrens mangels hinreichenden Tatverdachts oder einer Entscheidung der Staatsanwaltschaft, kein Ermittlungsverfahren einzuleiten, weil es an zureichenden tatsächlichen Anhaltspunkten für das Vorliegen einer Straftat fehle, gekommen sei. Die bloße Mitteilung der Einstellung des Ermittlungsverfahrens oder der Nichteinleitung eines solchen alleine reiche dagegen nicht, da dies auch andere Gründe haben könne, die den Verdacht selbst nicht in Frage stellen. Der Presse könne nicht abverlangt werden, hierzu Nachforschungen anzustellen.
5. Ausblick
Festzuhalten ist, dass es kein starres „Verfallsdatum“ für Altmeldungen gibt, sondern Ansprüche immer nur dann bestehen, wenn die Rechte des Betroffenen aktuell überwiegen. Das BVerfG will offensichtlich verhindern, dass Betroffene einseitig ihr Bild in der Öffentlichkeit beeinflussen können, indem sie sämtliche ihrem Ruf abträgliche Informationen dem Blick der Öffentlichkeit entziehen. Die Hürden für Schutzansprüche werden deshalb hoch angesetzt, woran sich auch die Rechtsprechung der Fachgerichte zu orientieren haben wird.
Wie die differenzierten Vorgaben des BVerfG hinsichtlich der Beschränkung der Auffindbarkeit über Suchmaschinen technisch umgesetzt werden können, bleibt abzuwarten. Das BVerfG sieht dabei die Betreiber der Archive in der Pflicht, Lösungen zu entwickeln. Die Frage, wann diese im Einzelnen als ausreichend zu erachten sind, wird die Gerichte in den nächsten Jahren immer wieder beschäftigen. Die Aussagen des BVerfG in den „Recht auf Vergessen“-Entscheidungen werden dabei die grundrechtlichen Fixpunkte darstellen.