Von Prof. Dr. Stefan Engels und Lennart Elsaß
Die Frage, unter welchen Voraussetzungen Informationen im Internet über lange zurückliegende Ereignisse „vergessen“ werden müssen, beschäftigt die deutsche und europäische Rechtsprechung schon seit Jahren immer wieder. Das Bundesverfassungsgericht hat zu dieser Thematik in zwei grundlegenden Entscheidungen Stellung genommen, die im ersten Teil dieses zweiteiligen Beitrags vorgestellt werden sollen. Im zweiten Teil wird es um die Auswirkungen auf den Betrieb von Online – Archiven gehen.
The question under which conditions there is a right to remove information about about events that occurred in the distant past from the internet has been a recurring issue in German and European case law. The German Federal Constitutional Court has recently taken a stand on this issue in two fundamental decisions, which will be presented in the first part of this two-part article. The second part will cover the implications for the operation of online archives.
1. Hintergrund
Während früher Berichte in Presse und Rundfunk der Öffentlichkeit in der Regel nur zeitlich begrenzt zur Verfügung standen, sorgen die beinahe unbegrenzten Möglichkeiten der Speicherung von Inhalten im Internet dafür, dass sie heute auch noch Jahre später von Interessierten abgerufen werden können. Artikel, die online erscheinen, bleiben in der Regel dauerhaft verfügbar, aber auch Altmeldungen aus analogen Zeiten werden häufig in digitaler Form in Online-Archive. Insbesondere wenn in den Berichten über Straftaten oder sonstiges Fehlverhalten berichtet wird, kann damit eine dauerhafte Beeinträchtigung der Persönlichkeitsrechte der erwähnten Personen einhergehen.
Verstärkt wird die Beeinträchtigung dadurch, dass Suchmaschinen praktisch sämtliche im Internet verfügbaren Inhalte erfassen, indexieren und bei Eingabe bestimmter Schlagworte Links zu den entsprechenden Websites zur Verfügung stellen. Über eine einfache Namenssuche in einer Suchmaschine können Interessierte damit einen strukturierten Überblick über sämtliche im Internet über eine Person verfügbaren Informationen erhalten. Das soziale und berufliche Umfeld kann auf diese Weise ohne großen Aufwand von lange zurückliegendem Fehlverhalten des Betroffenen erfahren.
Für den Betroffenen ergeben sich daher grundsätzlich zwei Möglichkeiten: Er kann entweder unmittelbar gegen die Quelle der Beeinträchtigung vorgehen oder aber auch lediglich versuchen, bei den relevanten Suchmaschinen durchzusetzen, dass die Artikel zumindest bei der Eingabe seines Namens nicht mehr angezeigt werden. Hiermit würde schließlich immerhin verhindert werden, dass Internetnutzer, die sich für seine Person interessieren, auf die Berichte stoßen.
2. Rechtsprechung des EuGH
Während das Vorgehen gegen die Originalberichte in der deutschen Rechtsprechung schon länger eine Rolle spielte, rückte spätestens die „Google Spain“-Entscheidung des EuGH auch das Vorgehen gegen Suchmaschinen in den Fokus der juristischen Diskussionen. Der Gerichtshof sprach einem Betroffenen auf Grundlage der damals noch geltenden Datenschutz-Richtlinie 95/46/EG einen Anspruch gegen den Suchmaschinenbetreiber Google zu, bei Eingabe seines Namens angezeigte Links zu zwei Ausgaben einer spanischen Tageszeitung aus dem Jahr 1998 zu entfernen (EuGH, Urteil vom 13.05.2014, Az.: C-131/12 – Google Spain). Dort enthalten waren nämlich Hinweise auf eine Zwangsversteigerung seines Grundstücks nach dessen Pfändung wegen Schulden bei der Sozialversicherung. Dies stelle einen Eingriff in die Rechte des Betroffenen aus Art. 7 GRCh auf Achtung des Privat- und Familienlebens sowie das Recht aus Art. 8 GRCh auf Schutz der personenbezogenen Daten dar. Der EuGH entschied, dass diese Rechte grundsätzlich nicht nur gegenüber dem wirtschaftlichen Interesse des Suchmaschinenbetreibers, sondern auch gegenüber dem Interesse der breiten Öffentlichkeit am Zugang zu der Information überwiegen würden. Nur wenn aus besonderen Gründe das Interesse der Öffentlichkeit am Zugang zu den Informationen überwiege, was sich insbesondere aus der Rolle der betreffenden Person im öffentlichen Leben ergeben könne, bestünde kein Anspruch auf eine solche Auslistung.
In zwei Entscheidungen aus dem Jahr 2019 hat der EuGH diese Grundsätze auf die inzwischen geltende DSGVO übertragen und weiter konkretisiert (EuGH, Urteil vom 24.09.2019, Az.: C‑136/17; Urteil vom 24.09.2019, Az.: C-507/17). Ein Anspruch kann sich nunmehr aus Art. 17 DSGVO ergeben, der ein Recht auf Löschung enthält. Die Ergebnisse müssen bei einem Überwiegen der Rechte der betroffenen Person zwar nicht weltweit, aber grundsätzlich aus allen EU-Versionen der Suchmaschine entfernt werden.
3. Neuere Rechtsprechung des BVerfG
Nach langem Warten hat sich Ende letzten Jahres schließlich auch das BVerfG geäußert und in gleich zwei Entscheidungen vom selben Tag zu den Anforderungen an ein Vergessen im Internet Stellung genommen. Dabei ging es passenderweise in einer Entscheidung um ein Vorgehen unmittelbar gegen den Betreiber eines Online-Archivs, also den Inhalteanbieter selbst, und in der anderen um ein Vorgehen gegen Google als Betreiberin der mit Abstand relevantesten Suchmaschine.
4. Vorgehen gegen Inhalteanbieter – Recht auf Vergessen I
In der Entscheidung mit dem amtlichen Titel „Recht auf Vergessen I“ (Beschluss vom 06.11.2019, Az.: 1 BvR 16/13) ging es um den Fall eines mehrfachen Mörders, der bereits Anfang der 1980er Jahre verurteilt wurde. Aus dieser Zeit stammten auch mehrere identifizierende Berichte in einem Magazin, die inzwischen auch über ein Online-Archiv abrufbar waren und deren ursprüngliche Rechtmäßigkeit außer Streit stand. Die Artikel wurden aber bei Eingabe seines Namens bei Google auch weiter unter den ersten Treffern angezeigt. Der Betroffene, der bereits 2002 aus der Haft entlassen wurde, scheiterte mit seiner Unterlassungsklage vor dem BGH und erhob daher Verfassungsbeschwerde.
Vor dem BVerfG hatte der Betroffene schließlich Erfolg. Das Gericht sah in der Klagabweisung eine Verletzung seines allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG. Da die Berichterstattung eine Offenlegung von personenbezogenen Daten beinhaltete, käme zwar eine Anwendung der unionsrechtlich vereinheitlichten Regelungen des Datenschutzrechts in Betracht. Art. 9 der Datenschutz-Richtlinie 95/46/EG bzw. jetzt Art. 85 DSGVO sehen jedoch für die Mitgliedsstaaten die Möglichkeit vor, für Datenverarbeitungen insbesondere zu journalistischen Zwecken abweichende Regelungen vorzusehen. Im Rahmen dieses Gestaltungsspielraums besteht nach Ansicht des BVerfG dann auch Raum für die Anwendung der deutschen Grundrechte aus dem Grundgesetz.
Das allgemeine Persönlichkeitsrecht enthält mehrere Ausprägungen, die vor unterschiedlichen Gefahren für die Persönlichkeitsentfaltung schützen. Vorliegend sah das BVerfG nicht das Recht auf informationelle Selbstbestimmung als einschlägig an, da dieses primär gegen die intransparente Verarbeitung und Nutzung von personenbezogenen Daten schütze. Im Fall der Mitteilung von personenbezogenen Informationen im öffentlichen Kommunikationsprozess seien vielmehr die äußerungsrechtlichen Ausprägungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts maßgeblich.
Im Rahmen der Abwägung mit der Meinungs- und Pressefreiheit der Beklagten aus Art. 5 Abs. 1 S. 1 und 2 GG komme der Zeit unter den Kommunikationsbedingungen des Internets ein spezifisches Gewicht zu. Die Rechtsordnung müsse davor schützen, dass sich eine Person frühere Positionen, Äußerungen und Handlungen unbegrenzt vor der Öffentlichkeit vorhalten lassen muss. Das BVerfG stellt jedoch ausdrücklich fest, dass es kein Recht gebe, öffentlich zugängliche Informationen nach freier Entscheidung und allein eigenen Vorstellungen zu filtern und auf die Aspekte zu begrenzen, die Betroffene für relevant oder für dem eigenen Persönlichkeitsbild angemessen halten. Auch könne es keine klaren zeitlichen Vorgaben oder starren Fristen geben, sondern es sei immer eine neue Abwägung unter Berücksichtigung der aktuellen Umstände notwendig. Hierbei spiele auch eine Rolle, inwieweit der Betroffene selber dazu beigetragen habe, das Interesse an der Tat wachzuhalten.
Die Betreiber von Archiven sind jedoch jedenfalls nicht gezwungen, ihr Archiv proaktiv regelmäßig darauf zu überprüfen, ob alle Altmeldungen weiterhin rechtmäßig vorgehalten werden dürfen. Prüfpflichten entstünden vielmehr erst dann, wenn eine qualifizierte Beanstandung durch den Betroffenen eingegangen sei.
Hinsichtlich der Frage, wie der Schutz konkret zu gewähren ist, strebt das BVerfG Zwischenlösungen an, in deren Rahmen weder eine vollständige Löschung aller individualisierenden Angaben zu erfolgen hat, noch der Beitrag vom Betroffenen uneingeschränkt hingenommen werden muss. Der Idealvorstellung des BVerfG entspricht dabei eine Beschränkung der Auffindbarkeit des Beitrags nach einer reinen Namensuche über eine Suchmaschine, während der Originaltext für Internetnutzer, die an den Umständen der Tat als solcher ein Interesse haben, weiter unverändert zur Verfügung steht.
5. Vorgehen gegen Suchmaschine – Recht auf Vergessen II
Die Entscheidung „Recht auf Vergessen II“ (Beschluss vom 06.11.2019, Az: 1 BvR 276/17) hatte das Vorgehen einer Geschäftsführerin eines Unternehmens gegen Google zum Gegenstand. Sie war im Rahmen eines NDR-Beitrags mit dem Titel „Kündigung: Die fiesen Tricks der Arbeitgeber“ zu Vorwürfen des unfairen Umgangs mit Mitarbeitern gegen ihr Unternehmen interviewt worden. Bei Eingabe ihres Namens in die Suchmaske der Suchmaschine wurde ein Link zu einem Transkript des Beitrags als eines der ersten Suchergebnisse angezeigt. Nachdem sie mit ihrer Unterlassungsklage vor dem OLG Celle scheiterte, legte sie ebenfalls Verfassungsbeschwerde ein.
Diese Verfassungsbeschwerde erachtete das BVerfG jedoch als unbegründet. Ein Novum der Entscheidung stellt dabei der vom BVerfG herangezogene Grundrechtsrahmen dar. Da die Tätigkeit der Suchmaschine mangels journalistischen Charakters nicht in den Anwendungsbereich des Medienprivilegs fiele, sei das Datenschutzrecht einschlägig, das durch die Datenschutz-Richtlinie 95/46/EG bzw. jetzt die DSGVO unionsweit vollständig vereinheitlicht sei. Insofern bliebe kein Raum für nationale Grundrechtsstandards, sondern es müsse einheitlich die GRCh zur Anwendung kommen. Das BVerfG prüft deshalb erstmals die Anwendung von Unionsrecht durch deutsche Stellen am Maßstab der GRCh.
Den Rechten der betroffenen Person aus Art. 7 und 8 GRCh stünden in der Abwägung die unternehmerische Freiheit des Suchmaschinenbetreibers und die Meinungsfreiheit der Anbieter der verlinkten Inhalte sowie das Interesse der Internetnutzer am Zugang zu den Informationen gegenüber. Auch dem Zeitablauf zwischen der ursprünglichen Veröffentlichung und der aktuellen Abrufbarkeit sei Rechnung zu tragen.
Die Ansprüche gegen den Inhalteanbieter einerseits und die Suchmaschine andererseits sind zwar grundsätzlich selbstständig. Das BVerfG betont insofern auch, dass es keinen automatischen Gleichklang zwischen der Zulässigkeit der Bereitstellung eines Beitrags im Netz und der Zulässigkeit des Nachweises durch eine Suchmaschine gebe. Es könne jedoch durchaus Wechselwirkungen zwischen den Ansprüchen geben. Die Abwägung zwischen Betroffenen und Suchmaschinenbetreibern stehe schließlich stets im Spannungsfeld der Zumutbarkeit möglicher Schutzmaßnahmen seitens des Suchmaschinenbetreibers und der Zumutbarkeit anderweitig zu erlangender Schutzmöglichkeiten.
Das BVerfG entschied dabei, dass das OLG diesen Anforderungen in seiner klagabweisenden Entscheidung gerecht geworden sei. Insbesondere habe es zu Recht darauf abgestellt, dass auch weiterhin ein allgemeines Interesse am Thema bestünde. Die verstrichene Zeit reiche (noch) nicht aus, um einen Schutzanspruch zu rechtfertigen.
Der zweite Teil dieses Beitrags behandelt die Frage, welche Auswirkungen die Entscheidungen des BVerfG auf den Betrieb von Online-Archiven haben. Der Artikel kann hier abgerufen werden.