BGH stärkt die Pressefreiheit: Verdachtsberichterstattung kann nach Verurteilung nicht mehr verboten werden

Von Linn Wotka und Lennart Elsaß

Der Bundesgerichtshof (BGH) hat entschieden, dass gegen eine Berichterstattung über den Verdacht einer Straftat kein Unterlassungsanspruch mehr besteht, wenn der Betroffene wegen dieser Tat rechtskräftig verurteilt worden ist (Urteil vom 18.06.2019, Az.: VI ZR 80/18).

The German Federal Court of Justice has ruled that the right to an injunction against a report on the suspicion of a criminal offence no longer exists if the person accused has been finally convicted by a criminal court.

Hintergrund

Der BGH hatte sich mit einem aufsehenerregenden Fall aus der Kanzleiwelt zu befassen, der deutschlandweit durch die Presse ging. Der Kläger war Partner in einer Großkanzlei und dort für Personalangelegenheiten zuständig. Er stand zunächst im Verdacht, nach dem Besuch des Oktoberfests in München im Außenbereich eines Restaurants eine studentische Mitarbeiterin der Kanzlei vergewaltigt zu haben. Ein anderer Partner der Kanzlei erstattete (nachdem er seinen Partner wegen der Tat verprügelt hatte) Strafanzeige gegen ihn, woraufhin die Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren einleitete.

Kurz nach Einleitung des Ermittlungsverfahrens veröffentlichten die Beklagten (ein bekanntes deutsches Boulevardmedium sowie seine Online-Plattform) die zwei streitgegenständlichen Wort- und Bildberichterstattungen. In den Artikeln wurde unter der Überschrift „Staatsanwalt ermittelt gegen Star-Anwalt“ mitgeteilt, dass der Kläger auf einer Oktoberfest-Party eine Mitarbeiterin vergewaltigt haben solle und die Staatsanwalt nach Eingang der Strafanzeige inzwischen ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet habe. Daneben wurden Details zum (angeblichen) Hergang der Tat mitgeteilt. Der Artikel enthielt ein Foto des Klägers, auf dem seine Augen mit einem schwarzen Balken verdeckt waren sowie seinen abgekürzten Namen, sein Alter, seinen inzwischen ehemaligen Arbeitgeber sowie Angaben zu seiner familiären Situation. Im Online-Portal waren Details nur für Inhaber eines kostenpflichtigen Premium-Accounts verfügbar.

Der Kläger bestritt die Tat bis zuletzt und machte Ansprüche auf Unterlassung, Auskunft, Ersatz des materiellen Schadens sowie die Zahlung einer Geldentschädigung gegen die Beklagten geltend.

Das Landgericht (LG) München I gab im Rahmen eines Teilurteils der Unterlassungsklage teilweise statt und verurteilte die Beklagten zur Erteilung von Auskunft über die Reichweite der Veröffentlichungen, um dem Kläger die Bezifferung seiner Zahlungsansprüche zu ermöglichen. Im Berufungsverfahren verurteilte das Oberlandesgericht (OLG) München die Beklagten vollumfänglich zur Unterlassung. Es begründete die Entscheidung unter anderem damit, dass bei einer Berichterstattung über ein noch nicht abgeschlossenes Strafverfahren die Unschuldsvermutung gelte. Hiergegen legten die Beklagten Revision zum BGH ein.

Im Laufe des Zivilrechtsstreits erhob die Staatsanwaltschaft Anklage. Inzwischen ist der Kläger von einem Strafgericht wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt worden. Das Urteil wurde im Laufe des Revisionsverfahrens rechtskräftig.

Unterlassungsanspruch ist im Laufe des Rechtsstreits entfallen

Der BGH differenziert bei seiner Prüfung zwischen den Aussagen, dass ein Verdacht bestehe, eine Strafanzeige vorliege und ein Ermittlungsverfahren laufe einerseits und den Details zum Hergang der Tat andererseits.

In Bezug auf die ersten drei Aussagen bestand nach Ansicht des VI. Zivilsenats zum maßgeblichen Zeitpunkt der letzten Revisionsverhandlung kein Unterlassungsanspruch mehr. Ein Anspruch aus § 1004 Abs. 1 S. 2 BGB analog, § 823 Abs. 1 BGB i.V.m. Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 GG in Bezug auf die Wortberichterstattung sowie aus §§ 1004 Abs. 1 S. 2 BGB analog, § 823 Abs. 1 und 2 BGB i.V.m. §§ 22, 23 KUG, Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 GG in Bezug auf die Wiedergabe des Bildnisses setze nämlich neben der Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts zusätzlich das Vorliegen einer Wiederholungsgefahr voraus. Eine solche werde zwar in tatsächlicher Hinsicht vermutet, wenn es in der Vergangenheit bereits zu einer Rechtsverletzung gekommen sei. Da aufgrund der inzwischen erfolgten rechtskräftigen Verurteilung die Unschuldsvermutung jedoch nicht mehr gelte, wäre eine Wiederholung der Berichterstattung inzwischen nicht mehr rechtswidrig und könne daher auch nicht verboten werden.

Der BGH qualifiziert die Äußerungen dabei als Tatsachenbehauptungen, deren Wahrheit aufgrund der rechtskräftigen Verurteilung nach § 190 S. 1 StGB als bewiesen anzusehen sei. Für die Frage der Rechtmäßigkeit sei eine Abwägung zwischen dem Recht des Klägers auf Schutz seiner Persönlichkeit und seines guten Rufs aus Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 1 GG, Art. 8 Abs. 1 EMRK und dem in Art. 5 Abs. 1, Art. 10 EMRK verankerten Recht der Beklagten auf Meinungs- und Medienfreiheit vorzunehmen. Die Berichterstattung beeinträchtige zwangsläufig das Recht des Betroffenen auf Schutz seiner Persönlichkeit und seines guten Rufes, weil sie sein mögliches Fehlverhalten öffentlich bekannt mache und seine Person in den Augen der Adressaten negativ qualifiziere. Straftaten gehörten jedoch zum Zeitgeschehen, dessen Vermittlung Aufgabe der Medien sei. Im Rahmen der Abwägung sei maßgeblich zu berücksichtigen, dass mit der Rechtskraft des Strafurteils die zugunsten des Klägers sprechende Unschuldsvermutung entfallen sei. Diese gelte zwar unmittelbar nur für staatliche Stellen, die Wertungen seien jedoch auch innerhalb der zivilrechtlichen Abwägung zu berücksichtigen. Auch sei zu berücksichtigen, dass in der Berichterstattung noch von einem Verdacht die Rede sei und unbefangene Leser ohne Kenntnis von der Verurteilung deshalb irrig davon ausgehen könnten, dass tatsächlich noch eine Einstellung des Verfahrens oder ein Freispruch möglich sei, was die Beeinträchtigung geringer erscheinen ließe.

Dies gelte entsprechend für die Wiedergabe seines Bildnisses in diesem Kontext. Die Erwägungen seien im Rahmen der Frage, ob ein Bildnis aus dem Bereich der Zeitgeschichte i.S.d. § 23 Abs. 1 Nr. 1 KUG vorliegt, zu berücksichtigen. Bei einem rechtskräftig verurteilten Straftäter bestehe schließlich auch nicht die Gefahr, dass sein Gesicht zu Unrecht mit der Tat verbunden werde und er sich von diesem Eindruck auch nach einem Freispruch nicht mehr befreien könne.

Der BGH hätte die Klage auf zukünftige Unterlassung der Äußerungen und der Wiedergabe des Bildnisses in diesem Kontext also eigentlich abgewiesen. Der Kläger verhinderte dies jedoch, indem er den Rechtsstreit in der Revisionsverhandlung insoweit in der Hauptsache einseitig für erledigt erklärte und damit seinen ursprünglich auf Unterlassung gerichteten Antrag auf die Feststellung umstellte, dass die Klage zumindest bei Klageerhebung noch zulässig und begründet war und der Anspruch erst später aufgrund der Verurteilung entfiel. Dies stellte der BGH wie beantragt fest. Bei Eintritt der Rechtshängigkeit, also zum Zeitpunkt der Erhebung der Klage, sei die Unterlassungsklage nämlich noch zulässig und begründet gewesen. Die Tatsachenbehauptungen würden zwar auch an dieser Stelle als wahr gelten. Da zum damaligen Zeitpunkt jedoch noch die Unschuldsvermutung gegolten habe, komme es für die rückblickende Beurteilung der Rechtmäßigkeit darauf an, dass die Darstellung keine Vorverurteilung des Betroffenen enthalte, wozu regelmäßige eine Stellungnahme von ihm einzuholen sei, und dass es sich um einen Vorgang von einem solchen Gewicht handele, dass ein berechtigtes Interesse der Allgemeinheit gerade auch an der Offenlegung der Identität des Betroffenen bestehe. Es habe zum damaligen Zeitpunkt jedenfalls an der letzten Voraussetzung gefehlt, da der Kläger weder einer breiten Öffentlichkeit bekannt gewesen sei noch eine besondere Stellung oder Funktion in der Öffentlichkeit innegehabt habe.

In Bezug auf die Mitteilung der Details zum Tathergang verfolgte der Kläger sein Unterlassungsbegehren gegen die Beklagte zu 2) unverändert weiter, hatte damit jedoch keinen Erfolg. Der Wahrheitsgehalt dieser Äußerungen war im zivilrechtlichen Rechtsstreit ungeklärt geblieben und der Inhalt des Strafurteils wurde auch nicht in das Verfahren eingeführt. Der BGH prüft die Äußerungen daher mit Blick auf ein mögliches in die Zukunft gerichtetes Verbot nach den Grundsätzen über die Verdachtsberichterstattung, deren Voraussetzungen er als gegeben ansah. Mit Blick auf die in der Zwischenzeit erfolgte Verurteilung liege ein Mindestbestand an Beweistatsachen vor, dem Kläger sei Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben worden, die Berichterstattung sei ausgewogen und es handele sich um einen Vorgang von gravierendem Gewicht, dessen Mitteilung durch ein Informationsbedürfnis der Allgemeinheit gerechtfertigt sei. Im Hinblick auf die Pressefreiheit verbiete sich eine Prüfung, ob es der Beschreibung der Details bedurfte.

Auskunft nicht erforderlich

Zuletzt befasst sich der BGH noch mit dem Auskunftsanspruch, der dem Kläger von den Vorinstanzen zugesprochen wurde. Mit diesem wollte der Kläger Informationen zum Verbreitungsgebiet und zur Auflagenhöhe der Zeitung sowie zur Dauer der Zugänglichmachung und Anzahl der Abrufe des Online-Artikels erhalten, um einen Schadensersatz- und Geldentschädigungsanspruch beziffern zu können. Der BGH ist jedoch der Ansicht, dass zur Bemessung der Summen die begehrten Informationen überhaupt nicht erforderlich seien. Für den Anspruch auf materiellen Schadensersatz komme es schließlich nur darauf an, in welchem Umfang der Kläger Einbußen an seinem Vermögen erlitten habe, wofür die Reichweite der Berichterstattung keine unmittelbare Rolle spiele. Bei der Bemessung der Höhe einer möglichen Geldentschädigung könne zwar das Ausmaß der Verbreitung der Veröffentlichung eine Rolle spielen. Bei den Medien der Beklagten könne jedoch grundsätzlich von einem vergleichsweise hohen Verbreitungsgrad ausgegangen werden, ohne dass darüber hinaus die Ermittlung exakter Veröffentlichungszahlen oder der Abrufe aus dem Internet erforderlich sei.

Auch kein Anspruch auf Geldentschädigung?

Zuletzt deutet der BGH noch Zweifel an, ob ein Anspruch auf Geldentschädigung, über den das LG im nächsten Verfahrensabschnitt noch zu entscheiden haben wird, überhaupt besteht. Ein solcher setzt schließlich das Vorliegen einer schwerwiegenden Persönlichkeitsrechtsverletzung voraus, die nicht in anderer Weise befriedigend ausgeglichen werden kann. Die Karlsruher Richter geben insofern zu Bedenken, dass die Beeinträchtigung unter Umständen insbesondere durch die erfolgte Feststellung der Rechtswidrigkeit von Teilen der Berichterstattung bereits hinlänglich aufgefangen worden sein könnte.

Praxishinweis

Die Entscheidung zeigt anschaulich, wie dynamisch die Abwägungsprozesse im Äußerungsrecht sind und dass die Frage der Rechtmäßigkeit einer Berichterstattung von variablen Faktoren abhängt. Ein zu einem früheren Zeitpunkt gefundenes Ergebnis ist damit nicht in Stein gemeißelt, sondern bei einer Änderung der Umstände kann das Pendel im Laufe der Zeit durchaus auch in die andere Richtung ausschlagen. Sowohl die Rechtsposition des Betroffenen als auch das Berichterstattungsinteresse können dabei im Laufe der Zeit in der Abwägung stärker oder schwächer zu gewichten sein, was dazu führen kann, dass eine früher einmal rechtswidrige Berichterstattung zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr für die Zukunft verboten werden kann.

Der BGH bezieht in der Entscheidung deutlich Stellung zur – auf untergerichtlicher Ebene – häufig problematisch entschiedenen Thematik „Verdachtsberichterstattung” und stärkt damit die Pressefreiheit. Er trifft insofern eine klare Entscheidung dafür, dass es für den in die Zukunft gerichteten Unterlassungsanspruch eben nicht darauf ankommen kann, ob früher einmal die Voraussetzungen zur Verdachtsberichterstattung eingehalten waren oder nicht. Insofern stellt insbesondere der Wegfall der Unschuldsvermutung eine gewichtige Zäsur dar, die Auswirkungen auf das Ergebnis der Abwägung haben kann. Der BGH enthält sich jedoch wohlweislich einer Aussage zur Frage, ab wann genau das Berichterstattungsinteresse erstmalig höher zu gewichten war als der Persönlichkeitsschutz des Klägers. Er zieht sich vielmehr darauf zurück, festzustellen, dass bei Erhebung der Klage, als die Staatsanwaltschaft noch nicht einmal Anklage erhoben hatte, jedenfalls noch ein Anspruch bestand, der spätestens mit Rechtskraft der strafrechtlichen Verurteilung entfallen ist. Es liegt jedoch nahe, dass je nach Umständen des Einzelfalls das Ergebnis der Abwägung auch schon vorher umschlagen kann, wenn sich der Vorwurf verdichtet hat und das Strafverfahren seinen Fortgang nimmt.

Zu begrüßen ist insbesondere, dass der BGH – obwohl er keine Entscheidung über den Anspruch auf Geldentschädigung treffen musste – dem Landgericht zumindest Hinweise gegeben hat, die man folgendermaßen interpretieren kann: Ein verurteilter Straftäter sollte keine Geldentschädigung wegen einer Berichterstattung über eine von ihm verübte Straftat erhalten.